Unsere Kapelle

Prälat Dr. Martin Dutzmann, ehem. Evangelischer Militärbischof

I Theologia crucis zum Anschauen

Im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin ist im Kapellenraum über dem Altar die Kreu­zesdarstellung des Künstlers Frank Lipka installiert, die von vielen Menschen als an­stößig und der Würde des Raumes nicht angemessen empfunden wird. Ich selbst meine, dass diese Darstellung des Kreuzes Jesu Christi wesentliche Elemente einer evangelischen Kreuzestheologie (theologia crucis) enthält.

Am Kreuz hängt ein schlimm geschundener menschlicher Körper aus Holz. Der Kopf, die Arme und Hände und auch die Füße fehlen. Der Torso ist ein Fundstück. Irgend­wo in Ligurien wurde er aus dem Müll gezogen, ging durch die Hand des Künstlers und fand seinen Weg in diese Kapelle. Die Herkunft des Torsos steht für die letzten Winkel der Welt, die Orte des Leids und des Elends.

Der Körper ist an einem Kreuz angebracht und verlängert dieses nach oben hin. So ist er zum Teil des Kreuzes geworden. Körper und Kreuz sind eins. Das Material des Kreuzes – behauenes Eisen – korrespondiert dem Material der Kerzenleuchter auf dem Altar vor dem Kreuz. Auf diesen zwei Leuchtern, die das Kreuz in ihre Mitte nehmen, brennen zwei Kerzen, die das Licht der Auferstehung symbolisieren. Da­zwischen liegt direkt unter dem Kreuz eine aufgeschlagene Bibel – das Wort Gottes, das Wort vom Kreuz.

Auf die Frage, warum das Kreuz in dieser irritierenden Rohheit dargestellt wird, ant­wortet der Künstler: „Um auf die Schwäche des Menschen und die Verstümmelung seiner Möglichkeiten hinzuweisen. Die Ohnmacht Christi im Leiden und am Kreuz ist manchen Christen zum Dreh- und Angelpunkt ihres Gottesverständnisses geworden. Gott bietet uns durch den geschundenen und gekreuzigten Jesus Christus Erlösung an.“

Soldatinnen und Soldaten, die in der Kapelle Gottesdienst feiern, empfinden diese Kreuzesdarstellung nicht selten als anstößig und unpassend und lehnen sie ab. Mög­licherweise hängt diese Ablehnung mit dem Umstand zusammen, dass Soldatinnen und Soldaten berufsbedingt mit den verheerenden Folgen von Krieg und Verbrechen konfrontiert werden. Manche von ihnen haben im Auslandseinsatz menschliche Kör­per gesehen, die durch Bombenattentate oder Sprengstoffanschläge bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren. Andere ahnen, dass sie solche Bilder noch zu se­hen bekommen. Die Konfrontation mit diesem Kreuz erinnert also die einen an schreckliche Erlebnisse und ruft in den anderen die Angst vor solchen Erlebnissen hervor. Umso wichtiger ist es, das Kreuz in seinem Zusammenhang mit Altar, Kerzen und Bibel zu betrachten.

II Eine kurze theologische Betrachtung

Was Frank Lipka mit künstlerischen Mitteln darstellt, findet seine textliche Entspre­chung in der Kreuzestheologie des Paulus, wie sie prominent am Anfang des ersten Korintherbriefes zum Ausdruck kommt: „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist eine Gotteskraft. Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Chris­tus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ (1. Kor 1, 18.23f)

Mehrere Jahrhunderte nach Paulus beschreibt Martin Luther in der Heidelberger Dis­putation von 1518 die Theologie vom Kreuz: „Also liegt in Christus dem Gekreuzigten die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes.“ 1)
Und: „Gott ist nur in Leiden und Kreuz zu finden“ 2).

Die seelsorgliche Relevanz einer solchen Erkenntnis bewegt sich m. E. zwischen zwei Polen: Das Wort vom Kreuz verkündigt die Befreiung von der Last der Schuld. Zugleich ist es dem Glaubenden der Ort, an dem er erfahrenes Leid benennen und ablegen kann. Auf diese seelsorgliche Wirkung des Kreuzes Christi setzten schon die Hospitalbrüder des Heiligen Antonius (Antoniterorden), als sie für ein Hospital des Antoniterklosters im elsässischen Isenheim 1512 dem Künstler Matthias Grüne­wald den Auftrag zur Anfertigung eines Altars gaben. Der Isenheimer Altar war Anto­nius, dem Ordensgründer und Schutzpatron bei ansteckenden Krankheiten, geweiht. Mit ergreifendem Realismus stellte auch der Künstler Matthias Grünewald das Ster­ben Christi am Kreuz dar.

Sterbenskranke Menschen sollen damals vor diesen gelegt worden sein und in der Begegnung mit dem Leiden Christi Trost in ihrem ei­genen Leiden gefunden haben. Bis heute machen Menschen die Beobachtung, dass leidende und sterbende Menschen sie von der Leidensgeschichte Christi in beson­derer Weise ansprechen lassen und sich in ihr wiedererkennen. Dabei ist die tröstli­che Wirkung, die in der Betrachtung des Kreuzes Christi liegt, eine doppelte:

Zunächst gibt das Kreuz dem eigenen Leiden und Sterben Ausdruck. Der sterbens­kranke Mensch muss sich angesichts des Kreuzes damit auseinandersetzen, dass er bald sterben wird. Das war zu jeder Zeit, ist aber besonders in der Gegenwart eine Anfechtung für die Menschen. Über den Tod spricht man nicht. Der Anblick des Kreuzes vermag solche Blockaden zu lösen.

Die andere tröstliche Wirkung des Kreuzes ist diese: Die Begegnung mit dem Leiden und Sterben Jesu Christi gibt dem eigenen Leiden und Sterben eine Richtung. Der sterbende Mensch, der das Kreuz betrachtet, erkennt darin das Mitleiden Gottes: Gott weiß auch um mein Leiden und um mein Sterben und er hat es überwunden. Diese Hoffnung, die über das eigene Leiden und letztendlich über alles Leiden hin­aus weist, vermag Menschen zu trösten.
Paul Gerhardt hat diesem Zusammenhang in dem Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ auf eindrucksvolle Weise Ausdruck verliehen.

Die 9. Strophe liest sich so:

Wenn ich einmal soll scheiden,
so scheide nicht von mir.
Wenn ich den Tod soll leiden,
so tritt du dann herfür;
wenn mir am allerbängsten
wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner Angst und Pein.

Der Mensch, der in solcher Weise das eigene Leid im Leiden des Sohnes Gottes wiederentdeckt, hat sein Leiden bereits angenommen und kann getröstet dem Ster­ben entgegengehen. Auf die Frage 1 des Heidelberger Katechismus „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ wird er sich die dort gegebene Antwort zu­eigen machen: „Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, son­dern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre … “

1) Luther, Heidelberger Disputation.(zu These XX), in: Luther. Deutsch, Bd. 1, Göttingen 1969, 389.
2) A.a.O. (zu These XXI), 389.